Eine wundervolle Einwanderergeschichte aus einem fantastischen Einwandererland, mit Joe und Lorenzo Di Donato als großartige Gastgeber – das sind die ultimativen Zutaten für eine Städtegeschichte der besonderen Art.

Bücher und Filme dramatisieren oft Kanadas Weiten, die unberührte Natur, die herbe Wildnis. Tatsächlich ist das Land flächenmäßig der zweitgrößte Staat der Erde. Und gleichzeitig einer der am dünnsten besiedelten. Gerade mal knapp vier Einwohner teilen sich – statistisch betrachtet – einen Quadratkilometer Fläche. In YYZ (der Flughafencode für Toronto), auf das unser Pilot Kurs genommen hat, sieht dies freilich anders aus. Komplett anders. Toronto sei eine faszinierende Weltstadt, schwärmten Joe und Lorenzo Di Donato, als sie uns zu einem Besuch ermunterten. Beim Landeanflug auf das 2,6-Millionen-Seelen-Zentrum verheißt ein Blick aus dem Fenster eine spannende Zeit. Die Uhr zeigt Mittag, als wir nach achteinhalb Stunden über den Wolken wieder sicheren Boden unter den Füßen haben, das Terminal betreten und von unseren Gastgebern mit italienischer Herzlichkeit willkommen geheißen werden.


Wir sollen gestärkt in den Tag starten, raten uns Joe und Lorenzo, als sie uns tags darauf in der Hotellobby abholen. Und noch bevor wir an Frühstück denken können, chauffieren sie uns zu einem imposanten Gebäude an der 672 Dupont Street. »Ab 1915 produzierte hier Ford zehn Jahre lang unter anderem das legendäre Modell T«, weiht uns Joe in die stolze Geschichte des ehrwürdigen Gemäuers ein. Heute beherbergt es unter anderem das Faema Caffè, wo wir uns in einer lauschigen Ecke niederlassen und die Köstlichkeiten studieren. Mit Eier Benedict und kunstvoll verziertem Cappuccino legen wir ein massives kulinarisches Fundament, um das uns jeder Fließbandarbeiter vor hundert Jahren beneidet hätte.

Natürlich löchern wir Joe und Lorenzo mit Fragen. Wir wollen erfahren, was es mit dieser liebevoll renovierten, alten Autofabrik auf sich hat. Und so fasst Lorenzo die Familiengeschichte der Di Donatos kurz zusammen: »Unser Vater Michael stammt ursprünglich aus Avellino in Italien. In der Nachkriegszeit war der heimische Arbeitsmarkt derart ausgetrocknet, dass er sich entschloss, auszuwandern und im fernen Kanada sein Glück zu suchen. Im Gepäck trug er eine Espressomaschine, einen tüchtigen Geschäftssinn und die Hoffnung auf ein besseres Leben mit sich. Eine schlechte Tasse Kaffee inspirierte unseren Vater dazu, die Koffeinszene in Toronto umzukrempeln. Er erkannte, dass es diesem Land an dem fehlte, was die Europäer seit Jahren genossen: die besten Espressi und Cappuccini. Seine Leidenschaft für perfekten Kaffee gepaart mit seiner Vision, Kaffeespezialitäten in einer neuen Welt zu etablieren, bewog unseren Vater dazu, ein eigenes Geschäft für den Import von Kaffeemaschinen zu gründen. Der Start war harzig; Vaters einzige Kunden waren Immigranten, die kleine Cafés, Bäckereien und Restaurants eröffneten, in denen sie Kaffee im italienischen Stil anbieten wollten. Er begann mit Restaurantbedarf zu handeln, machte sich einen Namen in der Gastrobranche und baute ein Geschäft auf, das es ihm erlaubte, dieses Gebäude als Stammsitz zu erwerben.« Wir sind beeindruckt und schmunzeln, als Joe ergänzt: »Unser Vater brachte Kaffeespezialitäten in die kanadischen Restaurants, wir wollen es ihm in den Haushalten gleichtun – mit Vollautomaten von JURA.«

Der größte Kaffeeschauraum Kanadas

Dass die Di Donatos bestens dafür gewappnet sind, beweist ein Besuch im Flagship Store, welcher sich im selben Gebäude über gigantische 20 000 Quadratfuß (ca. 1860 Quadratmeter) erstreckt. Mit »der größte Kaffeeschauraum Kanadas« bestätigt Lorenzo, was wir bereits vermutet haben. In dieser stilvollen Umgebung begeistert das Sortiment von JURA kanadische Kaffeefreunde. Mitten im Raum begegnen wir einer würdevollen Reminiszenz an die Ursprünge: einem Ford Modell T. »Kommt mit!«, fordert uns Joe mit einem Glänzen in den Augen auf. Mit dem Fahrstuhl gelangen wir aufs Dach. »Hier befand sich vor einem Jahrhundert die Teststrecke von Ford«, erzählt Lorenzo. Ob sich die tollkühnen Fahrer in ihren motorisierten Droschken damals genauso ob der atemberaubenden Sicht auf die Stadt erfreuten, wie wir es gerade tun?

Hotspots und Highlights der Metropole

Nach diesem absoluten Geheimtipp fahren wir zu einem touristischen Hotspot. »Der Nathan Phillips Square ist seit Mitte der 1960er-Jahre eine der urbanen Plazas Torontos. Er trägt seinen Namen zu Ehren eines unserer beliebtesten Bürgermeister. Hier treffen sich Einheimische und Touristen – ob im Winter zum Eislaufen oder im Sommer zum Flanieren«, versorgt uns Joe mit Hintergrundinformationen. Und Lorenzo fügt an: »Der Platz verbindet Historisches mit der Moderne. Angrenzend findet ihr das alte Rathaus mit seinem markanten Uhrturm sowie die New City Hall. Diese stammt übrigens vom Reißbrett des funktionalistischen finnischen Architekten Viljo Revell.« Ganz besonders legen uns die beiden einen Besuch am Abend nach der Dämmerung ans Herz, wenn der beleuchtete Springbrunnen und der gigantische, illuminierte Toronto-Schriftzug der kompletten Kulisse eine unwiderstehliche Magie verleihen. Danke, ist notiert!

Gemütlich bummeln wir die Bay Street hoch zum CF Toronto Eaton Centre, einem Konsumtempel, der keine Wünsche offenlässt. Die über 250 Geschäfte unter seinem Dach ziehen jährlich an die 50 Millionen Shoppingpilger an. »Besonders beliebt ist das Einkaufszentrum während der Weihnachtszeit, wenn man in der Mall den größten Weihnachtsbaum Kanadas bestaunen kann«, verrät Joe. »Hundert Fuß ist er jeweils hoch; das sind über dreißig Meter.« Dem vorsichtigen Abschätzen der immensen Höhe im riesigen Atrium geschuldet, befällt uns eine leichte Nackenstarre. Doch diese ist ob all der vielen optischen, akustischen und olfaktorischen Verlockungen, die von den Auslagen und Schaufenstern auf uns einprasseln, flugs vergessen. »Ich kann allem widerstehen, nur der Versuchung nicht«, schrieb Oscar Wilde einst. Kaum je haben wir ihn besser verstanden als jetzt …

Reizüberflutet, aber mit einem Lächeln im Gesicht, folgen wir Joe und Lorenzo über die Straße zum wohl belebtesten und beliebtesten Platz in Downtown Toronto, dem Yonge-Dundas Square. Unvermittelt wähnen wir uns am New Yorker Times Square: Gigantische Leinwände und Leuchtschriften, wohin man blickt. Menschenmassen, Fahrräder, Mofas, Autos, Lastwagen und Busse, die sich in einem von Ampeln fein säuberlich choreografierten Ballett durch den engen Raum bewegen. Lorenzos Stimme holt uns zurück: »Der Yonge-Dundas Square ist das Nervenzentrum der Stadt. Hier pulsiert das kulturelle Leben. Es reicht über Konzerte, Theater und Kino bis zur Kleinkunst – alles auf Weltklasseniveau.« Unsere Gastgeber schmunzeln, als sie uns mit staunenden Augen, wie man sie sonst nur von Kindern unterm Weihnachtsbaum kennt, diese Fülle an Angeboten betrachten sehen. Dann schlägt Joe vor, den Blickwinkel komplett zu ändern. »Wir haben auf dem CN Tower einen Tisch reserviert. Was haltet ihr von einem Aperitif?« Die Reaktionszeit für unser Nicken würde bei Sprintern als Frühstart geahndet.

Ein Weltwunder in luftiger Höhe

Filigran, doch von monumentaler Höhe überragt das nadelähnliche Bauwerk die Stadt und prägt deren Skyline. Seine 553 Meter machten ihn bis 2009 zum höchsten Fernsehturm der Welt. »Unser CN Tower zählt zu den sieben Weltwundern der Moderne«, schwärmt Joe auf dem Weg nach oben, während wir uns des Druckausgleichs wegen mit dem Schneiden seltsamer Grimassen beschäftigen. Die Aufzugtüre öffnet sich. Uns erschließt sich ein sensationeller Blick. Das 360°-Drehrestaurant liegt 351 Meter über Grund und steht als höchstes der Welt im Guinnessbuch der Weltrekorde. Wir setzen uns und lassen die Metropole in langsamer, gleichmäßiger Bewegung an uns vorbeiziehen. Dann lenkt ein Sommelier unsere Aufmerksamkeit auf sich. Seine Auswahl ist fast so beeindruckend wie die Aussicht. »9000 Flaschen lagern in unserem Keller«, eröffnet er uns, wobei er beim Wort Keller seine linke Augenbraue hebt und verschmitzt lächelt. »Der höchste Keller der Welt …«, murmeln wir. Der Einheimische nickt.

Önologisch vom Feinsten verwöhnt, lassen wir uns von Joe und Lorenzo die Stadt, welche unter uns liegt, ihre Quartiere und ihre Sehenswürdigkeiten erklären. Als die Flasche leer ist, blicken sich die beiden mit verschwörerischer Miene an. »Wie ist es um eure Höhenangst beschieden?«, fragt Lorenzo neckisch. Wir schlucken leer. Kurz darauf finden wir uns auf der Aussichtsplattform mit gläsernem Boden wieder. Wenngleich rational kein Grund dagegen spricht, die massiven Glaselemente zu betreten, befeuern doch die 442 Meter Nichts, die zwischen uns und dem sicheren Boden liegen, die Adrenalinproduktion mächtig. Zögerlich wagen wir einen vorsichtigen Schritt. Beim Blick nach unten lässt uns das mulmige Gefühl, als flögen wir, als stünden wir schwebend über dem Abgrund, erschauern.

Krönender Abschluss des Tages: ein exquisites kanadisches Dinner

»Jetzt habt ihr euch ein fantastisches Abendessen verdient«, sind sich unsere Gastgeber einig. Sie fahren uns quer durch die City zum Casa Loma, einem legendären, in den 1910er-Jahren im mittelalterlichen Stil erbauten Schloss. »In seiner bewegten Geschichte war es schon das Zuhause seines Bauherren, Sir Henry Pellatt. Während der wilden Zwanziger traf sich hier die Gesellschaft zu rauschenden Festen, begleitet vom Big-Band-Sound des Casa Loma Orchestra. Ein New Yorker Syndikat wollte es kaufen und zum Hotel umfunktionieren, aber der Deal platzte. In der Folge mauserte es sich zu einer Touristenattraktion. Seit 2014 ist es ein Schmelztiegel für kulturelle Veranstaltungen unterschiedlichster Couleur.« Danke für die Zeitreise, Joe. »Und«, bemerkt Lorenzo, »das Casa Loma ist eine der ersten Adressen in punkto Kulinarik für ganz spezielle Anlässe.« Genau dies stellen Küche und Keller des unlängst im Schloss eröffneten »BlueBlood Steakhouse«jetzt aufs Eindrücklichste unter Beweis. Das Ambiente, die Raffinesse der Gerichte, der Service – alles nur vom Feinsten. Wir schwelgen – ein absolutes Gedicht!

Bevor uns die Di Donatos wieder ins Hotel bringen, entführen sie uns noch in den historischen Distillery District. Im 19. Jahrhundert Heimat vieler Whiskey-Destillerien, säumen heute unzählige Bars, Restaurants und Boutiquen die Straßen dieses hippen Quartiers. Zum Soundtrack von Straßenmusikern schleppen wir uns erschöpft, aber glücklich durch die Gassen, staunen, genießen und lassen den Tag mit einen Feierabend-Espresso ausklingen.

Weinberge und Wassermassen

»Immer noch wie gerädert?«, fragt Joe grinsend, als er und sein Bruder uns am kommenden Morgen im Hotel abholen. Wir schieben die Schuld für unseren übernächtigten Gesichtsausdruck dem Jetlag in die Schuhe. »Keine Angst«, beruhigt er, »heute ist Relaxen angesagt.« Sie fahren uns um das »Goldene Hufeisen« nach Niagara-on-the-Lake, einem schmucken Städtchen am Ufer des Lake Ontario gelegen, wo der Niagara River in den See mündet. 27 Weingüter sind hier beheimatet, exzellente Restaurants und einladende Geschäfte. Man könnte bequem den ganzen Tag damit verbringen, durch die historischen Gassen zu flanieren, durch die Weinberge zu lustwandeln oder sich in den Gaststätten zu stärken.

Doch Joe und Lorenzo haben für uns etwas anderes organisiert. »Der krönende Abschluss einer Reise nach Toronto ist natürlich der Besuch der Niagarafälle«, ist Lorenzo überzeugt. Eine »Maid of the Mist«-Bootstour bringt uns ganz nah an das grandiose Naturschauspiel. Wir spüren förmlich die Urkraft der gigantischen Wassermassen, die unter ohrenbetäubendem Getöse in die Tiefe stürzen. Der Guide erzählt von einigen Verwegenen, denen der Versuch, die monströse Kaskade in einem Fass zu bezwingen, jäh das Leben gekostet hat. Seemannsgarn? Papperlapapp, Legenden hinterfragt man nicht!

Die Verabschiedung im Hotel fällt genauso herzlich aus, wie uns Joe und Lorenzo Di Donato durch ihr Toronto begleitet haben. Wir versprechen, wiederzukommen, laden sie zu einem Gegenbesuch in die Schweiz ein und sind davon überzeugt, dass unsere Herzen in den vergangenen Tagen ein bisschen die Form des kanadischen Ahornblatts angenommen haben …


Fotos: Modestino Carbone